Basisinformationen

    Professionelle Führungskräfte sind mit ethischen Fragen konfrontiert, denn Führen bedeutet, entscheiden zu müssen - und damit sind ethische Herausforderungen verbunden. Führungskräfte entscheiden für und gegen Optionen, für und gegen die Interessen unterschiedlicher Menschen und Stakeholder: Wie werden sie dabei ihrer Organisation, ihren Mitarbeiter*innen und nicht zuletzt den eigenen Ansprüchen und Vorstellungen gerecht? Wie gehen sie mit den Konflikten und Dilemmata um, in denen sie stehen: knappe Ressourcen, aber große Ziele; menschliche Lösungen, aber hohe Kosten? Woran kann sich der eigene moralische Kompass orientieren? In welchem ethischen Rahmen können sich Führungskräfte verorten?
    Führung ist auch inhaltlich ein ethisches Thema: Sind die Ziele, auf die hin geführt wird, gute Ziele – gesellschaftlich sinnvoll, ökologisch verträglich und ökonomisch lohnend? Mit welchem Recht und auf welche Art und Weise können Führungskräfte überhaupt über andere Menschen verfügen? Wie kann so geführt werden, dass Menschen ihre Gaben und Kompetenzen gerne einbringen? Welche Macht und welches Recht steht Führung zu – und wo beginnt der Missbrauch?

    Wo kann ich die Mitarbeiter*innen vor Ort selbst entscheiden lassen, wo muss ich den Rahmen setzen oder gar direkt eingreifen? Wie kann ich ihnen kritisches Feedback so geben, dass sie sich nicht persönlich getroffen fühlen, sondern über die Sache ins Nachdenken kommen? Was ist eigentlich der Kern unserer Arbeit, was ist wesentlich – und was ist unerheblich? Wie weit öffne ich mich persönlich, wo bin ich mit einer professionellen Haltung gefragt? – Dies sind typische Fragen, auf die Führungskräfte eine Antwort geben müssen, weil sie Verantwortung haben.

    Diese Fragen haben eine ethische Dimension: Rechtlich mögen einige Basisstandards geregelt sein, die Antwort auf diese Fragen hängt aber wesentlich von eigenen Grundsätzen, Haltungen und Werten ab.
    Zunächst aber: Was ist Führung? Wenn Menschen etwas gemeinsam unternehmen und Ziele verfolgen, bilden sich Führungsrollen heraus: Die einen gehen in Führung, die anderen lassen sich führen. Dies kann spontan und informell sein. Je anspruchsvoller jedoch das Ziel ist, je größer die Gruppe, je längerfristiger die Aufgabe angelegt ist, umso formaler werden Verantwortungen, Führungsrollen und Hierarchien etabliert und definiert.

    Schon in der Bibel wird Führung zum Thema: Die charismatischen Anführer*innen und Richter*innen im Alten Testament, die sich herausbildenden Rollen von König*innen, Priester*innen und Prophet*innen, Selbstorganisation und Führung bei den Jünger*innen um Jesus oder in den ersten Gemeinden mit ihren Apostel*innen und Diakon*innen, die Diskussion um Ämter in der frühen Kirche – immer geht es um unterschiedliche Formen von Führung. Die Einstiegsfragen oben etwa hat Paulus in seinen Briefen auf seine Weise beantwortet und damit Führung gezeigt.

    In der modernen Organisationsgesellschaft wird Führung zu einem "eigenständigen Beruf": Wesentliche gesellschaftliche Aufgaben werden heute von Organisationen erbracht, von staatlicher Verwaltung, von Unternehmen am Markt, von zivilgesellschaftlichen Gruppen. Um zu funktionieren, brauchen diese Organisationen Führungskräfte, die für die Ziele ihrer Organisation einstehen, sie in machbare Schritte übersetzen, Menschen als Mitarbeiter*innen für diese Ziele gewinnen und deren Arbeit koordinieren.

    a. Rollen der Führung

    In der modernen Organisationsgesellschaft ist Führung nicht primär eine persönliche Gabe, sondern eine Profession, deren Kernfunktion es ist, Entscheidungen zu treffen, diese zu kommunizieren und für ihre Folgen Verantwortung zu übernehmen: Durch diese Entscheidungen hindurch verwirklichen Organisationen ihre Ziele. Um zu beschreiben, was Führungskräfte tun, wenn sie in Organisationen Entscheidungen treffen, ist es hilfreich, verschiedene Rollen der Führung zu unterscheiden (Härri/Schwarz 2006):

    • Vorgesetzte*r: Als Vorgesetzte vereinbaren Führungskräfte Ziele und Aufgaben, tragen die Verantwortung für Entscheidungen, planen, organisieren und kontrollieren, stellen die Kommunikation sicher und ergreifen ggf. disziplinarische Maßnahmen.
    • Fachexpert*in: In der Rolle als Expert*in müssen sich Führungskräfte mit dem spezifischen Fachwissen ihres Bereichs mindestens in Grundzügen auskennen, um gut entscheiden zu können.
    • Moderator*in: Als Moderator*in leiten Führungskräfte Besprechungen, ermöglichen Beteiligung, vermitteln und managen Konflikte. Sie bringen Entscheidungsprozesse voran, beziehen unterschiedliche Interessen ein und ermöglichen Abstimmungsprozesse.
    • Coach: Führungskräfte begleiten die Entwicklung der Mitarbeitenden und unterstützen bei deren Entfaltung persönlicher Ressourcen. Sie fördern und fordern, beraten, reflektieren und geben Feedback.
    • Unternehmer*in: Als Unternehmer*in bzw. Strateg*in haben Führungskräfte die gesamte Organisation im Blick, geben Vision und Mission vor. Sie beobachten das inner- wie außerorganisationale Umfeld und vertreten die Organisationseinheit nach außen.
    • Mitarbeiter*in: Als Mitarbeitende erfüllen Führungskräfte vereinbarte Ziele in Rücksprache mit der eigenen Führungskraft und halten Rücksprache über Entscheidungen der Organisation.
       

    Das Rollenmodell zeigt, dass Führungskräfte nicht nur eine Rolle bevorzugt einnehmen (und eine andere Rolle gar nicht), sondern dass sie sich im Gefüge der Rollen gut zurechtfinden müssen. Oft nimmt man als Führungskraft binnen weniger Minuten verschiedene Rollen ein: Eben noch Moderatorin, die eine Besprechung leitet; jetzt aber Vorgesetzte, die aufgrund des Gehörten entscheidet; dann Coach, die einen Mitarbeiter dabei unterstützt, seine eben geklärte Aufgabe selbständig wahrzunehmen. Zudem hilft das Rollenmodell im Blick auf die Führung von Mitarbeitenden: "Welche Rolle erwartet oder braucht mein Gegenüber jetzt von mir? Welchen Hut habe ich jetzt auf?"
     

    b. Dimensionen der Führung und charakteristische Führungsthemen

    Um die Vielfalt von Führungsaufgaben zu erfassen, die sich um die Entscheidungsverantwortung gruppieren, erweist sich neben dem Rollenmodell in der Praxis das Modell der drei Dimensionen von Führung als hilfreich (Seliger 2010: 40ff.):

    • Menschen führen: Wer führt, arbeitet mit Menschen, orientiert und koordiniert deren Zusammenarbeit im Blick auf die Ziele der Organisation.
    • Organisation führen: Wer führt, leitet Projekte und klärt Arbeitsprozesse in der Organisation, formuliert Ziele oder entwickelt eine Strategie.
    • Sich selbst führen: Wer führt, muss mit eigenen Motivationslagen und Gefühlen umgehen können, sich selbst organisieren und steuern.


    In der alltäglichen Führungspraxis sehen sich viele Führungskräfte mit Fragen und Spannungen konfrontiert, die sie herausfordern. Aus der Beratungspraxis lassen sich einige Beispiele für die drei Dimensionen herausgreifen:

    Was Führungskräfte beschäftigt, wenn sie Menschen führen:

    • "Jetzt haben wir unsere Ziele so oft erklärt – und die Mitarbeitenden verstehen immer noch nicht, worum es geht. Was sollen wir denn noch machen?"
    • "Ich traue mich nicht mehr, Kritisches zu sagen: Die Mitarbeitenden kommen dann gleich mit dem Betriebsrat. Muss ich wirklich immer alles in Watte packen?"
    • "Wir diskutieren viele Themen im Führungsteam nicht wirklich aus. Das scheint der Preis der guten Stimmung bei uns zu sein. Wir vermeiden Konflikte"
    • "Meine Mitarbeitenden sind am Anschlag – und jetzt kommt noch die IT-Umstellung. Wie soll ich sie da motivieren?"
       

    Wenn es um das Führen der Organisation geht, kommen folgende Fragen auf:

    • "Wie passt unsere Strategie zu den großen Themen Klimawandel, Digitalisierung, Nachhaltigkeit?"
    • "Hier stimmt der Prozess hinten und vorne nicht. Die andere Abteilung müsste viel früher einbezogen werden."
    • "Wann und wo werden wir eigentlich über die Umstrukturierung informiert? Ich brauche einen Plan, wie wir das schaffen wollen, ich brauche verlässliche Aussagen für mein Team."
    • "Die Besprechungen könnten viel strukturierter, zügiger und regelmäßiger stattfinden."
       

    Bei den folgenden Führungsherausforderungen geht es um Selbstführung:

    • "Es ist gerade alles zu viel, ich schaue nicht mehr durch. Welche Prioritäten soll ich setzen?"
    • "Wohin soll ich mich weiterentwickeln? Soll ich dabeibleiben – oder das Unternehmen verlassen und eine neue Aufgabe suchen?"
    • "Ich halte die Ziele, die ich erreichen muss, für wenig sinnvoll. Soll ich einfach den Mund halten und machen – oder in die Diskussion mit meinen Vorgesetzten gehen?"
    • "Was hilft mir, den Konflikt anzusprechen, ohne wieder aus der Haut zu fahren?"
       

    Der Blick auf Rollen und Dimensionen vermittelt einen Eindruck davon, was in der Führungsdiskussion mit der "Unmöglichkeit von Führung" gemeint ist: "Führung ist prinzipiell unmöglich" (Seliger 2010: 18). Führung wahrzunehmen heißt, ständig und situativ zwischen Rollen und Dimensionen wechseln zu müssen – und heißt auch: ständig und situativ Rollen und Dimensionen abzuwählen, zu vernachlässigen, die ebenfalls wichtig gewesen wären. Die Einsicht in die Unmöglichkeit von Führung macht bescheiden – und sie macht vorsichtig gegenüber allen Ansätzen, die zu wissen meinen, wie "gute Führung" geht. Führung hat es bei aller Leistung und allen Erfolgen auch damit zu tun, zu irren, zu fehlen und zu stolpern.

    In der Führungsethik geht es mithin nicht nur um gute Entscheidungen, sondern auch darum, wie mit Fehleinschätzungen und schlechten oder fragwürdigen Entscheidungen umgegangen wird, die in komplexen Situationen mit unzureichender Information entstanden sind. Hier gibt es eine erste interessante Verbindung zu Grundhaltungen der protestantischen und christlichen Ethik: Demnach kann es ein Zeichen von Stärke zweiter Ordnung sein, Fehler zuzulassen, zu Fehlern zu stehen und Neuanfänge zu ermöglichen. Das ist nicht die Stärke, es richtig zu machen, sondern die Stärke, mit Fehlern vor anderen und vor sich selbst umgehen zu können.

    Bei aller Komplexität von Führung gibt es valide Ansätze zu einer Ethik der Führung, um eine gute Führungspraxis von mäßiger oder gar schlechter Führung zu unterscheiden. Das folgende ethische Basiskriterium und vier ethische Perspektiven begegnen in der führungsethischen Diskussion.

     

    c. Ein ethisches Basiskriterium

    Das Basiskriterium für gute Führung nimmt die Spannung zwischen den Dimensionen von Organisations- und Mitarbeiter*innen-Führung auf: Gute Führung hat sowohl die Ziele der Organisation als auch die Interessen der Mitarbeiter*innen im Blick; sie übernimmt Erfolgsverantwortung und Humanverantwortung (Kuhn/Weibler 2012), sie ist wirksam und wertschätzend zugleich:

    • Wirksam: Gute Führung als Funktion einer Organisation richtet ihre Entscheidungen – und damit die Mitarbeiter*innen und sich selbst – an den Aufgaben und Zielen der Organisation aus. Ohne diese Ausrichtung wäre Führung sinn- und ziellos.
    • Wertschätzend: Gute Führungskräfte begegnen anderen Menschen – Mitarbeiter*innen, Kolleg*innen, Geschäftspartner*innen – auf Augenhöhe, klar und deutlich im Blick auf Sachthemen, verbindlich und respektvoll im Blick auf das Gegenüber als Mensch. Ohne diese Haltung wäre Führung unmenschlich und demotivierend.
       

    An dieser Spannung zwischen Wirksamkeit und Wertschätzung zeigt sich eine Doppeldeutigkeit (Ambiguität) der Führungsethik:

    • Achtet die Führungskraft auf Augenhöhe und Respekt, nur weil sie bessere Ergebnisse will? Ist die Wertschätzung nur Mittel zum Zweck, um möglichst wirksam zu sein?
    • Oder ist die Wertschätzung Ausdruck der eigenen ethischen Haltung der Führungskraft, Ausdruck einer erfolgsunabhängigen ethischen Orientierung?
       

    In führungsethischen Konkretionen begegnet diese Doppeldeutigkeit laufend, wie unten zu sehen sein wird. Es wird deutlich, dass Ethik und Erfolg von Führung sich wechselseitig unterstützen können und miteinander kompatibel sind – der Wirtschaftsethiker Karl Homann spricht hier von einem "positiven Kompatibilitätsfall" (Homann/Blome-Drees 1992: 133): Weil jemand ethisch begründete Entscheidungen trifft, hat er oder sie auch Erfolg. Oder umgekehrt: Weil jemand am Erfolg der Organisation interessiert ist, legt er Wert auf einen fairen Umgang mit Anderen. Was nun genau zu einer ethisch begründeten Führung motiviert, kann von außen nicht geklärt werden. Zwei Fragen helfen, um Kriterien für genuin ethisch begründete Führung zu bekommen:

    • Wie sieht es im "moralischen Konfliktfall" aus (Homann/Blome-Drees 1992: 132)? Wie verhält sich die Führungskraft, wenn ihre gute Führung nicht oder nicht unmittelbar zum Erfolg der Organisation führt? Bewahrt sie eine ethische Haltung in schwierigen Zeiten oder fährt sie dann die Ellenbogen aus, zeigt ein anderes, ihr wahres Gesicht?
    • Wie sind Strategie und Ziele der Organisation ethisch einzuschätzen, in der die Führungskraft führt? Orientiert sich die Strategie der Organisation an gesellschaftlichen Zielen und Rahmenvorgaben oder liegt sie damit im Konflikt, was sich dann auf die ethische Qualität der Führung in ihr auswirkt (Lohndumping, fehlende Standards in der Lieferkette, Abwälzung externer Effekte auf die Gesellschaft)?

     

    d. Vier Perspektiven der Führungsethik

    Was gute Führung heißt, kann über dieses Basiskriterium hinaus in vier Perspektiven konkretisiert werden. Diese Perspektiven sind mit vier grundlegenden ethischen Zugängen verbunden (detaillierter dazu im Teil Fachwissenschaftliche Debatte).

    • Perspektive der Ziele: Für eine Ethik der Führung sind – wie eben gesehen – die Ziele wesentlich, auf die hin geführt wird. Gute Führung hängt an einer geklärten Strategie der Organisation bzw. des Unternehmens. Eine ethisch verantwortliche Strategie zeigt sich daran, wie die monetären (Gewinn-)Ziele auf inhaltliche Ziele bezogen werden: Was ist unser Auftrag als Unternehmen, wie sieht unser Beitrag zur Gesellschaft aus – etwa angesichts der Megatrends und -herausforderungen Klima, Digitalisierung, gesellschaftlicher Zusammenhalt? Eine gute Führungskraft kommuniziert den Sinn der Strategie und übersetzt sie in Ziele für das eigene Team. Die Entwicklung einer Strategie und das Übersetzen der Ziele für das eigene Team braucht in der Führung beides: Die Bereitschaft, auf andere zu hören und sie einzubeziehen – und die Fähigkeit, klar zu entscheiden, Entscheidungsprozesse nachvollziehbar zu organisieren und durchzuhalten.
       
    • Perspektive der Normen und Pflichten: Gute Führung orientiert sich an Menschenrechten, am Arbeitsrecht, an der betrieblichen Mitbestimmung etc. und sie stärkt das Verständnis für den Sinn dieser Regelungen in der Organisation. Hier wird konkret, dass Menschen in Organisationen nie nur als Mittel ("Arbeitskräfte", "Human Resources") für die Organisationsziele gesehen werden dürfen: Die Mitarbeitenden sind vielmehr Menschen mit eigener unveräußerlicher Würde, mit Rechten und Pflichten. Gute Führung sorgt dann für interne Regelungen, die Zusammenarbeit erleichtern und unterstützen: Arbeitsprozesse, Meetingstrukturen, transparente Kommunikationsformen. Die Pointe dieser führungsethischen Perspektive ist, dass Entscheidungen möglichst partizipativ zustande kommen: Zunächst sind Führungskräfte und Mitarbeitende Menschen auf Augenhöhe, mit gleichen Pflichten und Rechten. Nicht die Augenhöhe, sondern die hierarchische Vorordnung von Führung muss sich immer wieder legitimieren, so notwendig und angemessen sie in Organisationen auch sein mag.
       
    • Perspektive der Tugend: Es ist gut, wenn Führungskräfte selbst wissen, was sie wollen und was ihnen wichtig ist – bei aller Orientierung an externen Zielen und Normen. Selbstreflexion und die Ausbildung einer ethischen Haltung gehören zur guten Führung. FK sollten in Grauzonen selbständig und ohne klare Vorgaben entscheiden können, was zu tun, was zu lassen und was zu vermeiden ist. Neben Erfahrung und einer geübten Intuition sind hier geklärte Werte und Haltungen leitend: "Wie weit ziehe ich meinen Kreis – was möchte ich, was auf keinen Fall? Wo ergreife ich Initiative und gehe in Führung, wo braucht es Abstimmung mit Anderen?" Für die Ausbildung dieser Haltung spielt die Kultur der Organisation eine wichtige Rolle: Welche Werte und Haltungen prägen die Organisation von ihrer Geschichte und ihrem Auftrag her? Wie prägt die Kultur der Organisation die eigenen Werte und Haltungen von Führung?
       
    • Perspektive der situativen Wahrnehmung: Gute Führung hat neben dem Blick auf sich selbst einen Blick für die Situation der Anderen. Was genau bewegt mein Gegenüber? Was braucht er oder sie von mir – was kann er oder sie für uns leisten? Wer führt, ist deswegen auch Coach, hört zu, fragt nach, hilft dem Gegenüber, eigene Fragen zu klären oder sich selbst zu entwickeln. Wer führt, hat die Verantwortung dafür, wann er oder sie sich an den Vorgaben für alle orientiert und wann situatives Eingehen auf eine besondere Situation angemessen ist. Auch Führung in der gesamten Organisation braucht diesen Blick für die Situation: "Was bewegt unsere Stakeholder*innen, Partner*innen, Anspruchsgruppen, Kund*innen oder Klient*innen – was brauchen sie von uns und wo brauchen wir sie?"

     

    e. Führungsethik aus christlicher Perspektive

    Führungsethik ist allem Anschein nach (noch) kein prominentes Thema der deutschsprachigen theologischen Ethik. Der Markt an populärwissenschaftlicher Beratungsliteratur aus christlicher Perspektive wächst allerdings signifikant.
    Wichtige theologische Beiträge entstammen der sozialethischen Debatte um soziale Marktwirtschaft und Mitbestimmung, sie entstammen zum anderen personalethischen Zugängen, welche die Führungspraxis aus christlicher Perspektive deuten. Es lassen sich zwei Schwerpunkte wahrnehmen:

    • Christliche Beiträge legen Wert auf Normen und Pflichten in der Führung. Dies ist ein Spezifikum protestantischer Zugänge, die traditionell eng mit einer Ethik der Pflicht verbunden sind. Von der Metapher der Gottesebenbildlichkeit her – in allen Menschen spiegelt sich Gottes Wirklichkeit – wird Wert auf Augenhöhe und Partizipation gelegt. Traditionell geht es hier um institutionalisierte Mitbestimmung, um Partizipation bei Strategie und Unternehmenspolitik. Die neuere Diskussion betont von der gleichen Wurzel her die Diversität der Mitarbeitenden und legt das Augenmerk auf integrative Führung, welche die unterschiedlichen Gaben und Fähigkeiten von Mitarbeitenden wahrnimmt und fördert. Weniger im Blick sind hier Ziele und Ausrichtung von Führung.
    • Christliche Beiträge – hier vor allem aus katholischer Perspektive – fokussieren auf die Persönlichkeit der Führungskraft, ihre Begabung und ihre Spiritualität: Was heißt Selbst- und Nächstenliebe für die Führung? Woran orientieren sich Führungskräfte? Wie kann werteorientierte Führung aussehen? Welche Rolle spielt die Liebe als Wertschätzung und Respekt, welche Rolle spielt die eigene Frömmigkeit als kritische Distanzgeberin und motivationale Ressource? Diese Zugänge fokussieren auf die Führungskraft als Person. Ein systemischer Blick auf Teams und Organisationen, der auch Ethos und Kultur einer Organisation beleuchtet, ist hier kaum vertreten (vgl. etwa Meier/Sill 2005).

    a. Ethische Zugänge

    Führungsethik kann von unterschiedlichen ethischen Zugängen her entwickelt werden. Im Folgenden werden die vier erwähnten Perspektiven vertieft, die für die Reflexion guter Führung hilfreich sind. Sie fungieren als Scheinwerfer, in deren Licht führungsethische Herausforderungen sichtbar werden. Diese Zugänge stehen für gewichtige ethische Traditionen, die in Spannung zueinander stehen.


    Tugendethik der Führung

    Tugenden und Haltungen werden im alltäglichen Sprachgebrauch und in der praktischen Führungsreflexion oft mit Werten verbunden: "Was sind meine zentralen Werte? In welchen Situationen zeigen sie sich?" Tugenden sind damit eng mit der eigenen Identität verknüpft: "Wer will ich sein? Wie will ich wahrgenommen werden?" Tugenden entspringen starken Wertungen und sind emotional tief in der eigenen Erfahrungsgeschichte verankert (Taylor 1992: 131f.): Menschen machen Erschließungserfahrungen, in denen deutlich wird, wer sie sind und was sie wollen bzw. definitiv nicht wollen. Auch Organisationen kennen starke Wertungen und Erschließungserfahrungen, die ihre gemeinsame Kultur prägen (corporate culture): Man erzählt sich wert-volle Geschichten von der Gründerfamilie, es kursieren Stories über einen legendären Erfolg oder darüber, was in der letzten Krise geholfen hat etc.

    Eine Tugendethik der Führung kann deskriptiv ansetzen und nach der faktischen Orientierung von Führungskräfte fragen: "Was hat mich geprägt? Wie zeigt sich das in meinem Führungsalltag?" Sie wird präskriptiv, wenn sie hilft, die eigenen Werte zu reflektieren, argumentativ zugänglich zu machen, und kritisch auf das eigene Führungsverhalten zu beziehen: "Was wäre – von den eigenen Werten her – ein besseres Verhalten? Was wäre in dieser Situation eine gute Version von Führung?" Der tugendethische ist damit ein hermeneutischer Ansatz zur Führungsethik: Führungskräfte beziehen sich auf eigene starke Wertungen und wenden sie kritisch auf ihr Führungsverhalten an.

    Auf der Organisationsebene geht es um die Reflexion der in die Kultur der Organisation eingewobenen Werte: Welcher Geist von Führung, welche Haltung gegenüber Menschen, welche Version von Erfolg prägt die Organisation? Wie können diese Werte bewusst gemacht, gestaltet und verändert werden? Hier setzen Prozesse der Kulturentwicklung an, in denen die aktuelle Ist-Kultur beschrieben wird, um dann von diesem Entwurf aus eine Soll-Kultur zu entwickeln. Dies geschieht etwa mit Hilfe von Grundwerteerklärungen oder Führungsleitlinien, orientiert am Ziel und der Strategie der Organisation, sowie in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Vorstellungen von guter Unternehmensführung.

    Eine "Tugendethik der Selbstführung" hingegen betrifft die eigene Identität und Integrität. Sie orientiert sich an der eigenen Laufbahnentwicklung: "Wo sehe ich mich in Zukunft? Welcher Führungsstil, aber auch welche Position passt zu mir und meinen Überzeugungen?" Selbstführung wird besonders in Konflikten relevant: "Wie stelle ich mich selbst zu dem schwierigen Veränderungsprozess, wie vermittle ich ihn meinem Team?", "Mache ich bei Korruption und Vorteilsnahme mit, wie kann ich mich abgrenzen oder gar aussteigen"? Hier setzt das Konzept der integren Führungspersönlichkeit an (Palanski/Yammarino 2007).
     

    Pflichtethik der Führung

    Eine Pflichtethik der Führung orientiert sich an Menschheitspflichten, an Basisnormen menschlichen Zusammenlebens – etwa an den biblischen Zehn Geboten, der Erklärung der Menschenrechte oder dem Grundgesetz. Immanuel Kants kategorischer Imperativ ist einer der prominentesten Ansätze der Pflicht- oder Normenethik: Kann die Maxime des eigenen Handelns als Grundlage einer für alle geltenden Gesetzgebung gelten? Lässt sich die Regel, die meinem Handeln zugrunde liegt, universalisieren? (Kant 1929: 36) Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas öffnen diesen individuellen Universalisierungsgrundsatz kommunikativ: Welcher Regelung, welchem Verfahren können möglichst viele in einem offenen, herrschaftsfreien Diskurs zustimmen? Wie sehen Normengebungsverfahren aus, wie materiale Normen und Standards, die diesem Ideal eines herrschaftsfreien Konsenses nahekommen? (Apel 1990, Habermas 1981)

    Führungsethisch gewendet lautet die Frage: Welche Regeln für Führung sind verallgemeinerbar, so dass Führende wie Geführte ihnen als Standards für gute Führung zustimmen können? Wie kann Führung die Würde von Mitarbeitenden als Menschen achten und sie nicht nur als Mittel für andere Zwecke instrumentalisieren? Es geht hier um die führungsethischen Konsequenzen aus Kants Einsicht, dass einem Menschen dann mit Würde begegnet wird, wenn er kein "Mittel zum Zweck" ist, sondern "Zweck an sich selbst" (Kant 1929: 102)!

    Unter welchen Bedingungen können Menschen überhaupt andere Menschen führen? Aus der Perspektive der Pflichtethik kann keine Führung sich auf "heiligen Ordnungen", auf Hierarchien zurückziehen, sondern muss bei Dialog und Augenhöhe ansetzen. Dass jemand geführt wird, braucht die Zustimmung des Geführten – und erfordert Kriterien für eine verständigungsorientierte Führung: Führung ist dann legitim, wenn die Geführten nicht nur als Mittel zur Zielerreichung gesehen werden, sondern Zweck an sich bleiben (Ulrich 2017): Führung hat also dafür zu sorgen, dass die Geführten sich einbringen, dass sie Entscheidungen mitbestimmen können. Hierarchische Entscheidungen top down sollte demnach die Ausnahme, Partizipation und Meinungsbildung im Team sollten der Normalfall von Führung sein.

    Der pflichtethische Zugang legt deswegen Wert auf den rechtlichen Rahmen für Führung: Dazu zählen die Grundrechte, die Achtung der Würde von Mitarbeitenden als Menschen, die Einhaltung des geltenden Arbeitsrechts etwa bei Mitbestimmung und Betriebsverfassungsrecht sowie ein valider Code of Conduct in der Organisation, der Recht und Grenzen von Führung festlegt. Ebenso zielt dieser Zugang auf – nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitete – Managementprozesse und -strukturen: Wie wird kommuniziert – welche Regeln, Rituale und Strukturen der Kommunikation sind für alle hilfreich? Wie wird entschieden – wie werden Mitarbeitende in Entscheidungen einbezogen? Wie werden Konflikte geklärt – welche eingeübten Stufen und Instanzen gibt es dazu? Wie kommt es zu Karriere- und Laufbahnentscheidungen – mit welchen Methoden werden Kompetenz- und Potenzialwahrnehmung zu objektivieren versucht?

    Einer Pflichtethik der Führung geht es damit um gute Organisationsführung: Gute Führung muss für verbindliche Strukturen, Standards und Prozesse sorgen und sie gestalten. Diese Strukturen entlasten und ermöglichen dann die personenbezogene Mitarbeitendenführung, die in einem tugendethischen Setting stärker im Fokus steht. An einem Beispiel: In Konflikten reicht es oft nicht, nur an der Verbesserung von Beziehungen zu arbeiten: "Jetzt vertragen Sie sich bitte wieder!" Irritationen und Störungen zwischen Personen resultieren aus unklaren Rollen und Strukturen: Es ist oft zielführender, Strukturen, Prozess- und Rollenbeschreibungen zu klären, um Konflikte zu entspannen: Was ist unklar? Welche strukturelle Klärung, welche Rollenklärung hilft, dass der Konflikt nicht wieder entsteht? (Leary-Joyce/Lines 2018: 28)


    Situationsethik der Führung

    Situative Führungsethik blickt auf die Beziehungen zwischen Menschen. Sie ist am individuellen Gegenüber interessiert, nicht an der Regel. Sie blickt auf die spezifische Situation, nicht auf das Normative. Sie achtet auf die Angewiesenheit und die Bedürfnisse der Anderen, weniger auf die eigenen Interessen: "Was braucht mein Gegenüber in der aktuellen Situation?" Klassisch für diesen ethischen Zugang sind die situativen Überschreitungen des Sabbatgebots durch Jesus: Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat (Mk 2,27 par). Eine theologische Situationsethik, die die gebildete Intuition gegenüber der kognitiven Reflexion stärkt, findet sich bei Johannes Fischer (Fischer 2002). Im Beratungskontext sind gegenwärtig Ansätze zur Achtsamkeit und Wertschätzung in der Führung en vogue (siehe auch den Artikel zur Care-Ethik).

    Wer Menschen führt, hat ständig mit der Spannung zwischen Pflichten- und Situationsethik zu tun. Wann ist es angebracht, alle Mitarbeitenden gleich zu behandeln – und wann sind Einzelne besonders zu berücksichtigen? Wo sind professionelle Äquidistanz und Allparteilichkeit angemessen, wo die Rücksicht auf Bedürfnisse und persönliche Belange?

    Eine Situationsethik der Führung ist besonders in der alltäglichen Mitarbeitendenführung gefragt: Mit unterschiedlichen Persönlichkeiten im Team zu kommunizieren, Konflikte zu klären, Teams durch Veränderungen zu führen sowie die Potenziale von Mitarbeitenden zu entwickeln – dazu braucht die Führungskraft einen Blick für die jeweilige Person und Situation.

    Auch beim Führen von Organisationen braucht es eine wertschätzende Wahrnehmung für die Anderen in der Situation. Dies ist ein Anliegen des Stakeholderansatzes: Welche Anspruchsgruppen im Umfeld der Organisation (Stakeholder*innen) sind von Führung der Organisation betroffen und an ihr interessiert? Welche ihrer Motive und Bedürfnisse sind bei der Führung zu berücksichtigen? Rein funktional kommen zunächst Kund*innen und Klient*innen in den Blick, Geldgeber*innen und Mitarbeiter*innen – wer deren Anliegen ausblendet, riskiert den eigenen Erfolg. Aus ethischer Perspektive kommen darüber hinaus Stakeholder*innen in den Blick, die nicht – oder nicht von vornherein – erfolgsrelevant sind (Göbel 2014): Welche Interessen und Bedürfnisse haben Menschen im weiteren Umfeld – Nichtregierungsgruppen, die aktuelle Debatten aufgreifen und verstärken könnten; Politiker*innen, die die gesetzlichen Rahmenbedingungen verändern könnten? Gerade in sich schnell verändernden Kontexten (vgl. dazu das Akronym VUCA für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität nach Warren Bennis/Burt Nanus) kann dieses ethische Interesse an Anderen unter Umständen funktional für den eigenen Erfolg werden – ein weiteres Beispiel für die Ambiguität angewandter Führungsethik.


    Güterethik der Führung

    Eine Ethik der Ziele und der Güter – ursprünglich getrieben von der Frage nach dem höchsten anzustrebenden Gut – blickt auf die Qualität ("Güte") von angestrebten Zielzuständen: Was will die Organisation erreichen und bewirken? Was trägt sie zu einer sozialen und überlebensfähigen Gesellschaft bei? Diese ethische Perspektive spielt auf der Makroebene eine Rolle, bei den Diskussionen um Wohlfahrtsökonomie, um einen neuen Wohlfahrtsindex (Bruttosozialprodukt oder Glücksindikatoren) und um eine nachhaltige, überlebensfähige Gesellschaft. Dadurch wird sie für die Führung von Organisationen und Unternehmen relevant.

    In der Nachhaltigkeitsdebatte hat es sich bewährt, von drei wesentlichen Zieldimensionen zu sprechen: Um gesellschaftlich akzeptiert zu sein, müssen Unternehmen neben dem ökonomischen Formalziel "Gewinn" bzw. "Refinanzierung" ökologische und soziale Ziele verfolgen. Die 17 #Sustainable Development Goals der UN sind hier ein weit gespannter und hilfreicher Rahmen, um eine Organisation oder ein Unternehmen an den Zielen für eine überlebensfähige Gesellschaft auszurichten (https://sdgs.un.org/goals, zuletzt aufgerufen am 20.10.20).

    Unternehmen wie Non-Profit-Organisationen stehen – wie gesehen – im Fokus verschiedener Anspruchsgruppen mit Interessen und Zielen, die balanciert werden müssen. So wie Führung eine "unmögliche Aufgabe" ist, bleibt Unternehmensethik eine Konfliktethik (Ulrich 2008: 462ff.). Eine Führungsethik der Ziele und Güter nimmt diese Konflikte in den Blick und klärt sie durch die Entwicklung und Implementierung einer Strategie: Führung muss strategische Entscheidungen treffen, ohne die eine Organisation nicht überlebensfähig, schon gar nicht erfolgreich sein kann. Eine Strategie gibt Antwort auf die folgenden Fragen: Welche Ziele verfolgen wir aus welchen Gründen mit welchen Ressourcen? Welche Ziele priorisieren wir – welche können wir nicht bedienen? Welche Interessen können wir wahrnehmen – welche nicht? Schließlich: Wie wollen wir zu diesen Entscheidungen kommen – wer entscheidet?

    Aus güterethischer Sicht sind dabei drei Punkte leitend:

    • Gut ist es, wenn Situationen geschaffen werden, in denen sich Ziele gegenseitig stark machen: eine Personalentwicklung etwa, die das Interesse des Unternehmens an professionellen und kompetenten Mitarbeitenden mit deren eigener Motivation und Entwicklungsinteressen verbindet.
    • Gut ist es, wenn offen mit Zielkonflikten umgegangen wird, wenn Dilemmata zwischen Zielen für Beteiligte sichtbar gemacht werden – und wenn dann benannt wird, wie die Führung mit dem Konflikt umgeht, so dass möglichst viele die Entscheidung nachvollziehen können.
    • Gut ist es schließlich, Zielkonflikte nicht nur monologisch für andere, sondern dialogisch mit anderen zu klären. Dazu ist es notwendig, dass Führung Rollen und Erwartungen klärt: Wo wünschen und fördern wir Beteiligung – und was entscheiden wir in der Führung? Selbst der Rahmen der Beteiligung kann beteiligungsorientiert geklärt werden.
       


    b. Führungsethische Spannungen und Dilemmata

    Diese vier ethischen Zugänge sind wie Scheinwerfer auf Führung, aus deren Blickwinkel jeweils eigene Führungsfragen und -themen aufleuchten bzw. aus deren Blickwinkel führungsethische Haltungen je unterschiedlich plausibilisiert werden können – siehe etwa die pflicht- und die güterethische Begründung für Dialog und Partizipation.

    Führung ist eine Funktion von Organisationen, die Ziele erreichen wollen: Deswegen zeigt sich die Ambiguität angewandter Ethik hier in besonderem Maß: Führt jemand gut, weil er oder sie am Organisationserfolg interessiert ist und ethische Führung als ein wirksames Mittel zum Zweck sieht? Werte, weil sie sich lohnen? Wertschätzung, weil sie funktioniert? Oder führt jemand gut, weil er oder sie aus eigener ethischer Reflexion oder Haltung heraus nicht anders will und kann?

    Im positiven Kompatibilitätsfall (Homann/Blome-Drees 1992: 132) scheint die Frage nach Überzeugung und Haltung nicht wesentlich zu sein: Wenn Erfolg durch ethisch gute Führung erreicht wird, mag offenbleiben, was die Führungskraft motiviert. Oft genug ist es in der Praxis ein komplexes Bündel von erfolgsorientierter Pragmatik und ethischen Haltungen, die das eigene Führungsverhalten prägt.
    Herausfordernder wird es im ethischen Konfliktfall, wenn also ethisch reflektierte Führung nicht oder nicht sofort zum Erfolg führt. Woran zeigt sich eine genuine ethische Haltung von Führungskräften?

    • Am Beispiel der situativen Ethik: Bleibt jemand bei Entlassungen und Trennungen wertschätzend, emphatisch und fair gegenüber den Betroffenen, auch wenn Distanz und Gleichgültigkeit ihnen gegenüber einfacher und möglicherweise auch effektiver wären?
    • Oder am Beispiel der Tugendethik (Palanski/Yammarino 2007): Bleibt jemand bei den eigenen Grundsätzen, was Korruptionsvermeidung und Transparenz angeht, auch wenn das Geschäft mit unlauteren Mitteln schneller zum Erfolg kommt, auch wenn andere im Umfeld kräftig schmieren und damit erfolgreich sind?
       

    Führungsethik hat es in der Praxis permanent mit Grauzonen und Dilemmata zu tun. Wer führt, wird nicht vermeiden können, sich die Finger schmutzig zu machen. Weniger metaphorisch gesagt: Wer führt, wird ethisch suboptimale Entscheidungen treffen müssen und Kompromisse suchen zwischen ethisch guter und noch erfolgreicher Führung (Wegner 2019: 108). Hier geht es einer angewandten Führungsethik auf der Metaebene maßgeblich darum, ethische Überlegungen und Haltungen im Konfliktfall präsent zu halten: Führungsethik klärt nicht nur offene Fragen, sondern wirft sie auch auf. Führungsethik erleichtert nicht nur, sondern macht Dilemmata erst deutlich. Sie eröffnet die Spannung zwischen ethischer Reflexion und funktionalem Interesse, eröffnet damit einen zuweilen anstrengenden, oft aber produktiven ethischen Reflexionsraum.

    Zwei Ansätze, von der Normen- und der Güterethik inspiriert, unterstützen im Umgang mit diesen Problemfeldern:

    • Von normenethischen Überlegungen her ist es sinnvoll, über Regeln und Standards zur Klärung von Problemen nachzudenken und sie in Führungsprozesse zu implementieren. Bei anstehenden Entlassungen etwa ist es wichtig, zunächst ein Konzept davon zu entwickeln, wie ein guter Trennungsprozess aussehen kann, der Klarheit und Empathie verbindet. Welche Gespräche sind dazu hilfreich? Welche Angebote für den Übergang in neue Beschäftigungen können gemacht werden? – Am Beispiel Korruption ist entscheidend, welche Regeln und Bemessungsgrenzen es in der Organisation etwa für Einladungen und Geschenke in verschiedenen Kulturen gibt. Was kann jemand tun, um sich im Konfliktfall zu orientieren und sich beraten zu lassen? Wie kann Transparenz über das Vorgehen hergestellt werden?
    • Von güterethischen Überlegungen her ist es sinnvoll, die Unternehmensziele und -strategie so auszurichten, dass das Formalziel Gewinnerzielung bzw. Refinanzierung durch inhaltliche Ziele gefüllt und ausgerichtet wird – wie etwa Kund*innennutzen, soziale und ökologische Verträglichkeit. Ebenso sinnvoll ist es, die Führungsdilemmata in der Strategie zu berücksichtigen und bewusst Doppelstrategien zu entwickeln und zu kommunizieren. An einem konkreten Beispiel: Ein Unternehmen veranschaulicht, dass aktuell zwar die Effizienz durch Prozessoptimierung gesteigert werden muss (Ziel A), dass gleichzeitig und langfristig aber der ökologische Umbau der Produktion im Fokus im Blick ist (Ziel B). Damit wird gute Führung nicht allein auf Optimierung der Organisation, sondern auch auf ökologische Verträglichkeit ausgerichtet. Die Spannung von Führung zwischen funktionalem Interesse und ethischer Ausrichtung wird so in der Strategie der Organisation gespiegelt und von ihr unterstützt.
       

    Thomas Kuhn und Jürgen Weibler resümieren zur Ambiguität der Führungsethik, dass es keine natürliche Harmonie zwischen Humanverantwortung und Erfolg, allerdings auch kein unlösbares Führungsdilemma gibt (Kuhn/Weibler 2012).

    In der wirtschaftsethischen Diskussion (z.B. Homann 1988, Koslowski 1982) wird schließlich hinterfragt, inwiefern die hier unterstellte Spannung zwischen Ethik und Effizienz bzw. Ethik und Erfolg kategorial überhaupt zutrifft. Wird hier nicht ein Gegensatz konstruiert, den es so gar nicht gibt? Es wird darauf hingewiesen, dass es auch ein Ethos des Ökonomischen gibt, mithin eine Ethik der Erfolgsorientierung. Negativ ausgedrückt: Organisationen ohne klare Strategie, Führung ohne klare Entscheidung, ineffiziente Prozesse und Strukturen demotivieren Mitarbeitende und führen zu unnötigen Konflikten. Es ist oft schon ein erster Schritt zur guten Führung, wenn überhaupt entschieden, geführt und mit Mitarbeitenden und Ressourcen sorgsam umgegangen wird. Effizienz ist kein Gegenpol der Ethik, sondern kann ethische Führung unterstützen und kennzeichnen.


    c. Theologische Perspektiven

    Alle führungsethischen Zugänge können aus der Perspektive theologischer Ethik reformuliert werden – zumal diese Zugänge mehr oder weniger starke Wurzeln in biblischen und systematisch-theologischen Traditionen haben. Eine Tugendethik der Führung kann mit Prägungen und Erschließungserfahrungen des christlichen Glaubens verbunden werden, die Orientierung für die eigene Führungspraxis geben. In einer Pflichtenethik der Führung klingt die Rede von der Gottebenbildlichkeit der Menschen an, das Wissen darum, dass alle Menschen Gott widerspiegeln und von daher eine unverrechenbare Würde haben. Der situative Ansatz hat Verbindungen zu theologischen Ethikansätzen, die Barmherzigkeit, Care und Achtsamkeit für die Situation hervorheben. Die Güterethik ist verbunden mit theologischen Entwürfen, die nach dem Ziel gelingenden Lebens fragen: Was ist wesentlich? Was hat Bestand? Was sind die "Schätze im Himmel", nach denen Menschen streben?

    Protestantische Zugänge sind – wie erwähnt – eher einer Pflichtethik der Führung verbunden, während katholische Zugänge Nähen zur Tugend- und Güterethik der Führung aufweisen. Interessant ist, dass Führung noch kaum ein eigenes Thema theologischer Ethik ist. Dies könnte ein Spiegel dessen sein, dass die Wahrnehmung und Reflexion professioneller Menschen- und Organisationsführung im kirchlichen (und analog im akademischen) Bereich selbst (noch) nicht ausgeprägt ist.
    Hier spielt hinein, dass Pfarrer*innen mit der Institution des Pfarramts auf scheinbar vorgeregelte ethische Strukturen zurückgreifen können, dass gleichzeitig Kirche sich analog zur staatlichen Verwaltung organisiert und deren Paradigmen und Ethos oft unhinterfragt übernimmt: Der ethische Reflexionsdruck ist (noch) nicht groß.

    Allerdings wird angesichts nachlassender Plausibilitäten und der Professionalisierung auch im kirchlichen Kontext ethische Führung zunehmend reflektiert und eingeübt – eine Praxis, die mit zeitlicher Verzögerung die wissenschaftliche Diskussion erreicht.

    Die folgenden Punkte geben einen Überblick zu spezifischen Ansätzen und Schwerpunkten evangelischer Führungsethik und zu ihren Orten in kirchlichen Kontexten.

    • Amt und Dienst: Aus dem angelsächsischen Raum kommt der Ansatz des "Servant Leadership". Er regt dazu an, Führung auch jenseits kirchlich geprägter Milieus als Dienst zu verstehen: "Ein Servant Leader liebt Menschen und möchte ihnen helfen. Die Mission des Servant Leaders ist es daher, die Bedürfnisse anderer zu identifizieren und zu versuchen, diese Bedürfnisse zu befriedigen." (Kent Keith, zitiert nach Hinterhuber et al., 2014). Eine Führungskraft, die als Servant Leader agiert, stärkt die Gaben ihrer Mitarbeitenden und ihre eigenen Gaben. Sie führt durch Werte und Haltung, nicht (nur) durch Ziele. Sie ermöglicht Teilhabe und Selbstwirksamkeit der Mitarbeitenden (siehe ausführlich Hartmann 2013). Dieser Zugang lässt sich gut mit aktuellen Ansätzen agiler Führung verbinden, die ‚dienend‘ Raum und Ressourcen für motivierte und sich selbst organisierende MA bereitstellt und ihnen ein hohes Maß an Entscheidungskompetenz zutraut, also überraschend aktuell und inspirierend. Eine Schwäche von Servant Leadership kann darin liegen, dass durch ihren Fokus auf das Führen von Menschen der Blick auf Strategie und Auftrag der Organisation verloren geht. Auch kann man fragen, inwieweit die Rede von einer Führung als Dienst die mit Führung verbundenen Machtfragen verschleiert.
       
    • Macht und Dynamik: Die theologische Rede davon, dass Menschen in Machtbeziehungen stehen und relational von Anderem und Anderen geprägt sind, trifft sich mit systemischen Einsichten in Team- und Organisationsdynamiken: Bei guter Führung geht es nicht allein um die Gestaltung von Strategie und Struktur, sondern auch um einen wachen Blick auf die interpersonale Kultur der Organisation, um die machtvollen und prägenden Geschichten, die erzählt werden, die inneren Bilder, die eine Organisation leiten. Diese kulturellen Kraftfelder lassen sich – in Grenzen – pflegen, gestalten und stärken, gleichzeitig entziehen sie sich einer direkten linearen Steuerung. Diese Einsicht in machtvolle kulturelle Dynamiken führt zu größerem Vertrauen in die Selbstorganisation von Mitarbeitenden und erlaubt es der Führung, zu delegieren, loszulassen und wachsen zu lassen. Umgekehrt macht sie sensibel für die Macht negativer Geschichten und für die desaströse Wirkung unethischer Führung auf die Kultur: Kultursensibles Management rückt deswegen immer mehr in den Vordergrund der Führungsethik.
       
    • Schuld und Vergebung: Wer führt, kann Spannungen oft nicht auflösen und muss sich durch Dilemmata steuern. Nicht jede Entscheidung und Priorisierung hat mit Schuld zu tun – dies wäre eine unzulässige moralische Aufladung der Führungspraxis. Gleichwohl treffen Führungskräfte Entscheidungen mit großer Tragweite, die in die Existenz anderer Menschen eingreifen, sei es der Wechsel von Lieferant*innen, die Entlassung von Mitarbeitenden oder eine Verlagerung von Standorten. Hier hilft eine klare Unterscheidung von Verantwortung und Schuld: Eine Führungskraft trägt in ihrem Handeln Verantwortung für die Folgen und Nebenfolgen einer Entscheidung. Es kann nun sein, dass sich eine Führungskraft angesichts der Entscheidungsfolgen selbst als schuldig sieht: "Ich hätte bestimmte Konsequenzen verhindern können, wenn ich weitsichtiger gehandelt hätte." Oder auch: "Egal, wie ich entschieden hätte – ich hätte immer Schuld auf mich geladen". Führungskräfte gehen unterschiedlich mit dieser Herausforderung um: Neigen manche dazu sich aus Angst vor der eigenen Schuld vor unliebsamen Entscheidungen zu drücken, so treffen andere Entscheidungen leichtfertig und distanziert, blenden deren Konsequenzen und mögliche Schuld systematisch aus. In beiden Fällen hilft der Unterschied zwischen Verantwortung und Schuld – und es kann helfen, die Schuld benennen und aussprechen zu können: "Ich habe meine Verantwortung wahrgenommen – und bin dabei (gegenüber A oder B) schuldig geworden". In christlicher Perspektive liegt das Urteil über die Schuld nicht bei den Menschen, sondern bei Gott: Dieser Blick ist verbunden mit der nüchternen Einsicht, dass Schuld zum Menschsein gehört. Er ist zugleich verbunden mit der Hoffnung, dass Menschen in aller Schuld von Gott entlastet und befreit werden. Beides hilft, die eigene Schuld wahrnehmen und anerkennen zu können (Wegner 2019: 143f.): Es sind bewegende Erfahrungen für alle Beteiligten, wenn Führungskräfte offen und stimmig zu eigenen Fehlern stehen. Beides hilft dann, trotz und in aller Schuld neu anzufangen, wieder Verantwortung bewusst und reflektiert zu übernehmen und sich, andere und Organisationen nachdenklich und beherzt zu führen.
       
    • Postheroisches Management: Dieses Stichwort stammt aus der systemtheoretisch inspirierten Organisationssoziologie (Baecker 1994): Führungskräfte müssen keine Helden sein, die alles wissen, schultern und meistern können, sondern sie nehmen Rollen in der Organisation ein und steuern sich in komplexen Situationen zwischen widerstreitenden Anforderungen. Führung ist keine Aufgabe für Held*innen, sondern für professionelle und reflektierte Menschen. Dies erinnert an christliche Ansätze der Anthropologie, die die Stärke von Menschen darin sieht, in entscheidenden Momenten nicht stark sein zu müssen, sondern offene Fragen stellen zu können, Ratlosigkeit zu zeigen oder selbstkritisch Fehler zuzugestehen. Postheroisches Management riskiert, sich verletzlich zu machen, und hat die Chance, Reflexion und gegenseitige Offenheit zu ermöglichen. Hier verbinden sich systemische Führungseinsichten mit einer christlichen Perspektive: Henning Luther etwa führte die Rede von der "Identität als Fragment" in die theologischen Debatten ein (Luther 1982: 160ff.). Er hinterfragt den "Mythos der Ganzheit", der Perfektion, der Entwicklung verhindere. Demgegenüber ermutigt er dazu, das Bruchstückhafte im Leben eines jeden Menschen für die eigene Lebensführung wahrzunehmen. Überträgt man diese Einsicht auf die Führungsethik, wird das herkömmliche Leitbild von paternalistischer, wohlmeinend-allwissender Führung produktiv erschüttert. Auch wird damit die Dynamik der Selbstkontrolle und -optimierung hinterfragt, die persönliche und berufliche Kontexte gegenwärtig prägt.
       
    • Eschatologischer Vorbehalt: Aus christlicher Perspektive kann man daran erinnern, dass es bei Führung um "vorletzte Dinge" geht, nicht um "letzte" Heilsfragen (vgl. die Kriterien der "kritischen Distanz" und "relativen Rezeption" von Arthur Rich 1984: 179ff.). Dieser ideologiekritische "eschatologische Vorbehalt" stärkt eine Führung, die sich nicht vom göttlichen Charisma her versteht, sondern als Rolle in Organisationen, für die sie im besten Fall begabt und geeignet ist. Er stärkt eine Führung, die Verantwortung für Ressourcen übernimmt, die geliehen und ihr anvertraut sind, und für Menschen, die unveräußerliche Würde haben: Führung ist eben nicht freie Verfügung über privates Eigentum, sondern Umgang mit geschenkten Gaben und geliehenen Gütern. Von hier aus können ideologische Deformationen von Führung benannt und kritisiert werden: Die narzisstische Führungskraft, die keinerlei kritische Instanz neben oder gar über sich duldet – aber auch die gleichgültige Führungskraft, die ihre Verantwortung nicht wahrnimmt und nicht in Führung geht – aus Angst vor Entscheidung, aus Harmoniebedürfnis. Diese Ideologiekritik trifft selbstverständlich auch die entsprechenden Deformationen im Raum der Kirchen selbst.

    In diesem Abschnitt wird skizziert, wie ethische Führung in der Praxis konkret aussehen kann. Klassische und aktuelle Führungsaufgaben werden entlang der Trias von Organisationsführung, Mitarbeiter*innen- und Selbstführung vorgestellt und diskutiert (zu vielen der Praxisthemen siehe Dietzfelbinger 2015: 65ff.)
     

    a. Organisation führen

    Wirksam führen: Führungskräfte wollen und müssen wirksam sein, mit begrenzten Ressourcen zu den Organisationszielen beitragen, also effektiv sein. Dies ist common sense der systemischen und organisationspsychologischen Führungstheorie (Malik 2000: 18), Wirksamkeit ist neben dem Treffen von Entscheidungen ein wesentliches Merkmal von Führung. Diese fundamentale Ökonomie der Führung ist zunächst ethisch neutral. Ob sie gut oder schlecht ist, entscheidet sich an den Zielen, auf die hin geführt wird: Was soll bewirkt werden? Höhere Rendite (für wen)? Größere Zufriedenheit von Kund*innen? Integration von Geflüchteten? Ausstieg aus der Kohle? Allerdings gibt es – wie angedeutet – ein inhärentes Ethos der Wirksamkeit selbst. Es ist fragwürdig, wenn Ressourcen verschwendet werden, wenn Mitarbeitende im Unklaren gelassen werden über ihre Aufgaben und Ziele, wenn die Führung es versäumt, die Strategie zu klären, wenn der Organisation ihr eigener Sinn und Zweck verloren gehen. Effizienter Mitteleinsatz und effektive Zielverfolgung sind – in der Perspektive der Güterethik – notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingungen guter Führung. Hier gibt es bei allen Unterschieden in den Zielen und Aufgaben keinen wesentlichen Unterschied zwischen Führung im Profit- und im Nonprofitbereich.

    Verantwortung übernehmen: Wer führt, übernimmt Verantwortung – für Mitarbeiter*innen und für die Ziele der Organisation. Verantwortung zu übernehmen bedeutet Antworten zu geben (Schmid/Messmer 2004):

    • Wer führt, darf Antwort geben und wird dafür von der Organisation autorisiert und beauftragt.
    • Wer führt, muss Antwort geben können im Blick auf den eigenen Bereich – das erwarten Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen von der zuständigen Führungskraft.
       

    Bei diesen beiden Verantwortungsdimensionen sind Normen- und Güterethik der Führung im Fokus.

    • Wer führt, will Antwort geben – hier geht es um die eigene Haltung: Ich bin bereit und willens in Führung zu gehen.
    • Und wer führt, kann Antwort geben, er oder sie hat Kompetenzen zur Führung und ist bereit, sich zu reflektieren und weiterzubilden.
       

    Diese beiden Dimensionen sind verbunden mit einer Tugendethik der Führung. Die Verantwortung der Führungskraft wird hier im Blick auf organisationsbezogene Akteur*innen beschrieben: Verantwortung gegenüber Management, Investor*innen und Geldgebende, Verantwortung gegenüber Mitarbeitenden, Kund*innen und Klient*innen.

    Eine wesentliche Verantwortungsdimension überschreitet diesen direkten Organisationsbezug: Führungskräfte sind nicht nur Organisationsmitglieder, sondern Bürger*innen in der Gesellschaft. Zwischen der Organisationsrolle und dieser sozialen Rolle von Führungskräften in der Gesellschaft kann es zu Spannungen kommen: Führungskräfte sind als Mitarbeitende der Organisation gleichzeitig Teil von deren Umwelt und bringen Außenperspektiven ein. Peter Ulrich spricht von der Spannung zwischen "erfolgsorientierter Organisationsverantwortung" und "zivilgesellschaftlicher Bürgerverantwortung" (Ulrich 2017). Diese Wahrnehmung von Spannungen kann für das Unternehmen hilfreich sein, wenn Führungskräfte intern zur Sprache bringen, was in der Gesellschaft Menschen bewegt bzw. was sie selbst als Bürger*innen der Gesellschaft bewegt. So kommen innovative Ideen für neue Zielgruppen, Produkte und Arbeitsweisen in das – tendenziell selbstreferenzielle – Unternehmen. So werden kritische Meinungen und Trends relevant und tragen zur Risikominimierung bei: Führungskräfte als betroffene Bürger bringen Kritik an Produktionsstandards oder an internen Glaubenssätzen zur Sprache und können die Unternehmensausrichtung verändern.

    Über den Tellerrand schauen: Zur Aufgabe von Führung gehört, über den Tellerrand zu schauen und sich am Rand des eigenen Teams zu verorten (sh. Führungsrolle Unternehmer*in). Darauf verweist eine weitere Differenzierung der Verantwortung (Schmid/Messmer 2004):

    • Eine Führungskraft ist verantwortlich für Ziele und Mitarbeitenden im eigenen Bereich, sie ist zuständig für diesen Bereich.
    • Gleichzeitig ist eine Führungskraft verantwortlich in Bezug auf andere Bereiche in der Organisation: Auch wenn die Führungskraft nicht für IT zuständig ist, muss sie doch IT-Probleme oder Ideen für neue Software mit der zuständigen IT-Abteilung besprechen, die umgekehrt andere Abteilungen in ihre IT-Strategie einbeziehen muss.
       

    Umsichtiges Mitdenken und Rollenklären über den Tellerrand hinaus gehört also konstitutiv zur Führung. Diese zweifache Ausrichtung macht Führung anspruchsvoll: Sie führt zur Konfusion von Verantwortung, wenn die Führung sich selbst einer fremden Sache annimmt und in fremde Zuständigkeiten eingreift. Sie führt andererseits zur Diffusion von Verantwortung, wenn eine Führungskraft die eigentlich Zuständigen nicht auf Probleme hinweist, sondern in Unkenntnis lässt und das Problem ungelöst. Diese übergreifende Verantwortung bezogen auf… lässt nicht disziplinarisch einfordern, sondern nur lateral wahrnehmen: Dazu braucht es gute, offene und klare Kommunikation zwischen den jeweils zuständigen Führungskraft.

    Strategie entwickeln: Führung ist dafür verantwortlich, die Kernaufgaben und Ziele der Organisation bzw. des eigenen Bereichs regelmäßig zu überprüfen: Welche Entwicklungen gibt es im Kontext, bei relevanten Stakeholder*innen? Was machen andere Organisationen mit ähnlichen Aufgaben? Welche Stärken haben wir – und welche Chancen ergeben sich für uns? Die ethische Qualität der Strategie hängt wie gesehen an der Güte der strategischen Ziele: Sind sie eindimensional ökonomisch oder mehrdimensional, sozial und ökologisch ausgerichtet? Werden Zielkonflikte überspielt oder wird offen mit ihnen umgegangen? –
    Es zeigt sich gegenwärtig vermehrt, dass gute strategische Führung eine dialogische Daueraufgabe bleibt, die sich nicht auf das obere Management beschränken lässt. In der Diskussion um gute Führung geht die aktuelle Debatte weg vom einmaligen, extern konzipierten Strategieprojekt top down, hin zur Strategieentwicklung und -umsetzung als dialogische Daueraufgabe out of the middle. Dieser Trend bekommt Unterstützung von agilen Ansätzen im IT-Umfeld, wo langfristig angelegte Projekte wegen der schnellen Kontextveränderungen keine Chance mehr haben. Dieser Trend kommt dem führungsethischen Anliegen einer breiten Beteiligung der Mitarbeitenden und Stakeholder*innen an Strategieentwicklung und -umsetzung entgegen: Sie werden als wesentliche Kompetenzträger*innen und Kontextkenner*innen wahr- und ernstgenommen. Gleichzeitig erhöht eine solche Beteiligung die Akzeptanz und das Engagement im Blick auf die Strategie im Unternehmen ("Purpose Driven Organisations", Fink/Moeller 2018: 89ff.).

    Für Ziele sorgen: Um die Strategie für den eigenen Bereich zu konkretisieren/übersetzen, muss eine Führungskraft für Ziele sorgen (Malik 2000: 174ff.). Traditionell werden hier Zahlenziele auf Teamebene "heruntergebrochen". Immer mehr zeigt sich, dass die Sorge für Ziele nicht nur eine monologische Rechen-, sondern eine dialogische Übersetzungsleistung sein sollte: Das Team wird einbezogen und mit der Strategie des Unternehmens vertraut gemacht. So können die Teammitglieder selbst eigene Ressourcen und Ambitionen benennen. So entsteht eine stimmige Teamstrategie, die aus der Gesamtstrategie entwachsen ist. Auch hier erweist es sich als sinnvoll, wesentliche Stakeholder*innen im Unternehmen und außerhalb einzubeziehen. Strategieorientierte Teamentwicklung blickt hier nicht nur auf die Kulturseite, also auf die Beziehungen im Team, sondern schaut auf Strategie und Struktur des Teams: Sie hilft ihm, seine Kernaufgaben und -ziele zu klären. Sie unterstützt das Team dabei, die Rollen und Prozesse entsprechend auszurichten (Hawkins 2017, 47ff.).

    Entscheidungsprozesse managen: Wer führt, muss entscheiden. Besser sogar umgekehrt: Nur wer entscheidet, führt. Entscheidungen gehören – wie Zielorientierung und Wirksamkeit – zu den Kernaufgaben von Führung. Entscheidungen sind in aller Regel Entscheidungen unter Ungewissheit, auf der Basis fragmentarischen Wissens. Entscheidungen machen es nie allen recht, sondern erzeugen Befürworter*innen und Gegner*innen. Entscheidungen setzen Prioritäten und wählen ab. Deswegen gehört es zu den Kennzeichen guter Führung, die Gründe und Motive für Entscheidungen transparent zu machen und deren Sinn zu kommunizieren. Deswegen ist es sinnvoll, Betroffene zu hören und einzubeziehen, in den Dialog zu gehen – und dann zu entscheiden: Weder dezisionistische Alleingänge noch verständnisbemühte Dauerdebatten machen gute Führung aus, sondern das stringente Management von Entscheidungsprozessen, mit erwartungsklarer Beteiligung – und rollenklarer Entscheidung. Bei Entscheidungen wird deutlich, wie die ethischen Perspektiven zueinander in Spannung stehen und gemeinsam zu reflektierten Entscheidungsprozessen beitragen können: Situationsethik wirbt um Wahrnehmen und Einbezug, Tugendethik kann für Mut und das Beziehen von Positionen werben, die Normenethik für transparente und universalisierbare Verfahren, die Güterethik schließlich für die Ausrichtung an sinnvollen Zielen.

    Organisieren – Delegieren: Die Leitfrage des Organisierens lautet: Wie kann die Organisation so gestaltet werden, dass die Mitarbeiter*innen ihre Kompetenzen dort einbringen können, wo sie die Ziele der Organisation am besten unterstützen? (Malik 2000: 191ff.) Organisation ist eine Daueraufgabe: Es gibt keine allgemeingültigen Organisationslösungen, nur jeweils angesichts von Strategie und Kontextherausforderungen angemessenere und weniger angemessene Organisationsgestalten. Stabilität und Flexibilität, Bereichs-, Projekt- und Netzwerkorganisation sind die Stichworte, die die Diskussion hier umreißen. Ethisch relevant ist, wie verschiedene Organisationsformen Kultur prägen und Menschen formatieren: unüberwindbare vs. flache Hierarchien, uneinsehbare vs. nachvollziehbare Umstrukturierungen, verkündete vs. mitgestaltete Veränderungen. Die Art und Weise der Organisation prägt die Erwartungen und das Verhalten von Mitarbeitenden. – Ähnlich relevant für gute Führung ist Delegation in der Alltagsorganisation: Wer als Führungskraft nichts abgeben kann, sondern alles an sich zieht, verharrt in der Expertenrolle. Den Mitarbeitenden wird dann nur wenig zugetraut, ein Klima des Misstrauens kann entstehen. Umgekehrt signalisiert die Delegation von Verantwortung, dass die Führungskraft ihren Mitarbeitenden vertraut, sie befähigt und an gemeinsamem Lernen interessiert ist. Normenethische Ansätze verweisen auf das emanzipatorische Potenzial gelebter Delegation: Wo Mitarbeitende selbst ihre Expertise entfalten und einbringen können, begibt sich Führung von einer hierarchischen auf eine dialogische Kommunikationsebene. Auch hier gibt es ausreichend Hinweise für führungsethische Konvergenzfälle: Wer befähigt und beteiligt, arbeitet – in aller Regel – mit motivierten und erfolgreichen Teams zusammen.

    Hierarchie und Selbstorganisation: Gegenwärtig wird im Umfeld agiler Organisationsansätze diskutiert, ob Hierarchie noch zeitgemäß sei. Traditionell personale Hierarchieansätze finden sich kaum noch in der Diskussion bzw. wurden funktional transformiert: Die Rede vom Hierarchen "aus Gottes Gnade" setzt sich fort in der Debatte um Milieus und Netzwerke, aus denen Führungskräfte immer noch bevorzugt stammen. Die Rede von der "charismatischen Führungspersönlichkeit" setzt sich fort in umfassenden Kompetenzmodellen für gute Führung, die nicht nur Charisma, sondern auch andere Führungsqualitäten wahrzunehmen helfen. – Wie steht es nun um funktional begründete Hierarchie? Bedingt durch die Folgen der Digitalisierung und agiles, kundennahes Projektmanagement, unterstützt durch Erfahrungen und Einsichten der Organisationspsychologie bekommen derzeit Organisationsformen Aufwind, die auf Selbstmotivation und Selbstorganisation in Teams setzen: Was wer bis wann tut, wird – mit klaren Rollen und in strukturierten Prozessen – vom Team selbst gemanagt. Damit verschieben sich die Rollen von Führung. Die Vorgesetztenrolle verliert an Bedeutung, was Steuerung und Vorgaben anbelangt: Ziele, Entscheidungen, Kontrolle, alles wird vom Team selbst wahrgenommen. Demgegenüber agieren Führungskräfte mehr als Coaches, die ihre Mitarbeitenden befähigen. Gleichzeitig entsteht für die Führungskräfte ein Freiraum, in dem sie sich mehr als Unternehmer*in begreifen kann und die strategische und kulturelle Weiterentwicklung des Bereichs oder des Unternehmens im Blick hat. In der aktuellen Diskussion wird darüber hinaus diskutiert, ob die genannten Funktionen auch ganz von der Führungsposition abgelöst und in sich selbst steuernde Teams und Organisationen verlagert werden können – die Hierarchie würde dann in Verfahren der Selbstorganisation überführt werden (Laloux 2015, Fink/Moeller 2018). Drei Fragen stellen sich angesichts dieser spannenden Entwicklung: Inwiefern können bei der Auflösung von formalen Hierarchien unter der Hand neue informelle Hierarchien und Machtzentren entstehen, die dann diffuser sind und schwieriger zu bewerten? Welche elementaren Aufgaben von Führung bleiben für gelingende Selbststeuerung notwendig: Rahmen setzen, Ziele und Ressourcen steuern, Prozesse der Selbststeuerung coachen und moderieren ? Für welche Organisationen und Kontexte eignet sich Selbstorganisation eher, für welche weniger – und wie können Mischformen aussehen (Oestereich/Schröder 2020)?

    Umgang mit Fehlern – Lösungsorientierung: Wer arbeitet, macht Fehler, wer führt nicht minder. Deswegen gehört ein angemessener Umgang mit Fehlern zu guter Führung. Dabei hilft der Fokus auf Lösungen, nicht auf Probleme: "OK, es ist passiert, eine Entscheidung hat sich als Problem erwiesen – was können wir nun tun, um ‚die Kuh vom Eis‘ zu bekommen und das Problem zu lösen?" – "Der Lösung ist es egal, warum das Problem entstanden ist", sagt Steve de Shazer, einer der Impulsgeber der lösungsorientierten Kurzzeitberatung (Shazer 1989): Es kann helfen, sich virtuell vorzustellen, das Problem sei gelöst, um dann mögliche Schritte zur Lösung zu finden. Wesentlich für einen guten Umgang mit Fehlern ist es zudem, dass nur das Verhalten von Menschen beurteilt wird, nicht aber die Person als Ganzes: "Ihr Verhalten hier war problematisch", niemals aber: "Sie sind das Problem"! – Es kann auch helfen, ein Problem zu analysieren, der Fehlerursache nachzugehen. Dies sollte aber nicht dazu dienen, jemandem Schuld zuzuschreiben, sondern dazu, Muster zu erkennen und systemische Verbesserungen auf den Weg zu bringen, was zum Beispiel unklare Verantwortlichkeiten, Rollen und Prozesse anbelangt, die den Fehler mit verursacht haben.

    Kommunikation als Regel- und Sinnkommunikation: Führung in Organisationen wirkt nur durch Kommunikation. Für eine gute Organisationsführung sind zwei kommunikative Prozesse zentral. Es ist erstens die Aufgabe einer Führungskraft, den Sinn von Entscheidungen zu kommunizieren: Neben rationalen Argumenten – Zahlen, Einschätzungen, Szenarien – braucht es auch eine gute Sinnerläuterung, eine nachvollziehbare Geschichte, um die Entscheidungen in einem größeren Sinnzusammenhang zu verorten. Eine solche Sinnerläuterung greift auch auf die Selbsteinschätzung der Organisation zurück, auf die Erzählung, die sie über sich selbst erzählt. Eine zweite zentrale Kommunikationsaufgabe ist es, eine formale Struktur der Regelkommunikation zu etablieren und zu gestalten: Hilfreich sind Meetings, in denen sowohl top-down als auch bottom-up informiert wird: Was bewegt bzw. entscheidet das obere Management? Was bewegt die Mitarbeitenden, welche Lösungsansätze bringen sie ein, wie stehen sie zu den Entscheidungen? Gut sind Meetings, in denen nicht nur informiert, sondern auch kommuniziert wird, in denen Dialog und Diskussion geübt und gepflegt werden. Hilfreich sind regelmäßige und strukturierte Meetings (periodischer Jour fixe, tägliches Stand-up-Meeting), dazu ad-hoc-Meetings, offene Formate, wo immer nötig. Es braucht neben der operativen Alltagskommunikation auch strategisch orientierte Teamworkshops, um Themen mit mehr Tiefe und Zeit angehen zu können. Zu einer Regelethik der Kommunikation gehört schließlich die regelmäßige Überprüfung, ob die eingeübte Meetingstruktur zur aktuellen Situation passt, effizient und gleichzeitig einbeziehend ist.


    b. Menschen führen

    Kommunikation systemisch: Neben der organisierten ist die alltägliche Kommunikation von Mensch zu Mensch für Führung wesentlich: Wer führt, muss darum wissen, dass Menschen in unterschiedlichen Wirklichkeiten leben, wahrnehmen und handeln. Die je eigenen Wahrnehmungswelten sind geformt durch Vorgeschichte und Erfahrung, Profession und Bereich in der Organisation. Wie der Konflikt der Normalfall der Unternehmensethik ist, so ist das Missverständnis der Ausgangspunkt jeder Kommunikation (Watzlawick 1976). Diese Grundeinsicht systemischer Kommunikationstheorie wird auch für gute Führung relevant: Gute Kommunikation fragt zurück ("Wie haben Sie das verstanden? Welche Fragen haben Sie dazu?"), holt und gibt Feedback ("Ich sage Ihnen, wie das bei mir angekommen ist: ...") und klärt Verständnis und Auftrag ("Habe ich Sie richtig verstanden...?"). Führungskommunikation verläuft im hermeneutischen Zirkel von Vorverständnis, Nachfrage und besserem Verständnis. Noch mehr als bei der organisierten Kommunikation spielt bei der alltäglichen Führungskommunikation in der Menschenführung ein situativer Ansatz eine wesentliche Rolle: Wo gilt es situativ nachzufragen, Verständnis zu sichern – weil jemand neu dabei ist, nicht vertraut, in anderen Organisations- oder Professionswelten beheimatet?

    Feedback: Sich Rückmeldung zu geben, gehört zum Kern einer kommunikationsorientierten Führungsethik – weil es der Führung darum geht, Mitarbeitende in ihrer Zusammenarbeit zu unterstützen und auf Ziele hin auszurichten. Insofern zeigt sich einmal mehr beim Feedback die führungsethische Ambiguität (Bröckling 2017, 197ff.): Geht es um Optimierung der Organisation – oder/und um ein menschliches, faires Miteinander?
    In regelmäßigen Mitarbeitenden-Gesprächen oder Teambesprechungen kann eine Feedbackkultur eingeführt und ritualisiert werden. Egal ob positive oder kritische Rückmeldung: Gutes Feedback zeichnet sich durch eine Grundhaltung aus, die Verhalten und Person unterscheidet, das Verhalten (kritisch) in den Blick nimmt, das Gegenüber hingegen achtet und respektiert. Gut wird dies im Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation konkret (Rosenberg 2013): Hier wird zunächst die Situation konkret beschrieben, auf die das Feedback Bezug nimmt ("Ich habe wahrgenommen, dass Sie xy getan haben"). Gutes Feedback bringt dann die eigene emotionale Wertung ein und unterscheidet diese von dieser Beschreibung ("Das hat mich geärgert/gefreut…"). Dann wird dann das eigene Bedürfnis benannt ("... weil mir daran liegt, dass…"), an das anknüpfend schließlich eine konkrete Bitte formuliert wird ("deswegen bitte ich Sie...") – oder aber auch ein Dank. Ein wesentlicher Punkt bei der Gewaltfreien Kommunikation ist das Benennen eigener Bedürfnisse und Interessen: Hier hat sie eine große Nähe zu einer selbstbewussten Tugendethik der Führung.

    Umgang mit Diversität: Die Unterschiede der Welten bzw. der Kontexte, in denen die Mitarbeitenden einer Organisation leben, nehmen zu. Die Internationalisierung und Individualisierung, die wachsende Gleichstellung unterschiedlicher Genderidentitäten, die Gleichzeitigkeit mehrerer Generationen im Arbeitsleben sowie die Inklusion von Menschen mit Behinderung sind treibende Faktoren dieser Diversität. Ein gelingender Umgang mit Diversität ist deshalb eine ethische Herausforderung und gleichzeitig ein Erfolgsfaktor: Nicht das einmütige Team ist langfristig erfolgreich, sondern das Team, das seine diversen Interessen, Perspektiven, Herangehensweisen managen kann. Hilfreich ist es dabei, wenn das Maß an Diversität in einem Führungsteam der Diversität bei den internen und externen Stakeholder*innen entspricht, so einer der führungsethischen Grundsätze von Peter Hawkins ("the team having a level of diversity that is equal to the diversity in the stakeholder world they need to engage with", Hawkins 2017: 224). Diversität muss zunächst wahrgenommen und zugelassen werden: Dabei unterstützen Hospitationsprogramme oder Angebote wie der "#SeitenWechsel", die die Mitarbeit in fremden Arbeits- und Lebenswelten ermöglichen, um Einblick in andere Wirklichkeitssichten zu erlangen (www.seitenwechsel.org). Auch Pluralität in der eigenen Berufslaufbahn bis hin zu Umwegen und Brüchen in der eigenen Berufsbiografie machen eine Führungskraft offen für Diversität. Für eine Führungskraft ist es darüber hinaus wichtig, die Unterschiede in der Organisation nicht nur wahrzunehmen, sondern in der Führungspraxis einzuüben und zu leben: So sollten Projektteams möglichst funktional interdisziplinär besetzt werden, Arbeitsgruppen aus jungen und erfahrenen Mitarbeitenden bestehen, so sollten Menschen mit und ohne Behinderung im Unternehmen arbeiten und fremde Perspektiven bewusst einbezogen werden durch Kund*innen- und Stakeholder*innendialoge. Aktuelle Ansätze agilen Projektmanagements und agiler Führung bieten dazu viele kreative Ideen.

    Führen in Veränderung: Veränderungen sind der Alltag in Organisationen: Das Aufgabenfeld, die Teamzusammensetzung, der Arbeitsort und -platz – alles verändert sich immer wieder, weil Kontexte und Strategien der Organisation sich verändern. Neben einer guten und rollenklaren Beteiligung von Mitarbeitenden an Strategiearbeit, an Entscheidungen und Umorganisation braucht Führung ein Verständnis für die Psychologie von Veränderungen: Wie geht es Menschen in Veränderungen? Dies setzt die Bereitschaft zur Selbstreflexion der Führungskraft voraus: Was hat mir selbst in Veränderungen geholfen? Was hätte ich gebraucht?
    Verschiedene "Phasenmodelle der Veränderung" können darüber hinaus Orientierung dafür geben, wann welche Art der Führung für welche Mitarbeitenden angemessen ist – hier am Beispiel des "Hauses der Veränderung" (nach Hansueli Eugster, sh. Rohm 2020: 73ff.):

    1. Führung muss gezielt verunsichern und irritieren, wenn die Mitarbeitenden sich übermäßig sicher fühlen (im Zimmer der Zufriedenheit: "Uns wird schon nichts passieren")
    2. Führung muss emotionale Spannungen der Mitarbeitenden aushalten, ernstnehmen und – auch emotional – aufgreifen, wenn die Mitarbeitenden in der Phase des Widerstands gegen eine Veränderung sind (im Zimmer der Verweigerung: "Was soll denn das? Das können die doch nicht machen!")
    3. Führung wird informieren und orientieren, wenn sich Mitarbeitende in der Phase der offenen Fragen befinden (im Zimmer der Verunsicherung: "Wie soll das dann gehen? Ich verstehe es noch nicht!")
    4. Führung wird Mitarbeitende als Multiplikatoren einsetzen, wenn sie die Veränderung gut bewältigen und akzeptieren (im Zimmer der Akzeptanz: "Es geht ja – manches sogar besser!").
       

    Führungskräfte müssen sich im Klaren darüber sein, dass Mitarbeitende oft noch in Phasen ‚hängen‘, die die Führungskräfte selbst schon hinter sich gelassen haben. Der Durchgang durch das Tal der Veränderungskurve fällt – abhängig sicher von der jeweiligen Persönlichkeit – umso leichter, je besser der Sinn der Veränderung kommuniziert und der Weg der Veränderung gemeinsam erarbeitet wurde.

    Führen in Konflikten: Führen bedeutet unterschiedliche Perspektiven und Interessen zusammenzubringen (siehe Umgang mit Diversität) und die daraus resultierenden Konflikte zu klären. Konflikte wiegen umso schwerer, je mehr sie von einer Differenz in Sachfragen zu einer Spannung zwischen Personen werden, je mehr sie von akuten Auseinandersetzungen zu chronischen Konfliktlinien geworden sind, je mehr sie Vorverletzungen der Beteiligten berühren. Beim Moderieren von Sachkonflikten und Interessensunterschieden ist eine lösungsorientierte Herangehensweise hilfreich (siehe oben), so etwa in einem moderierten Konfliktgespräch: "Formulieren Sie Ihren Vorwurf als Wunsch an den Anderen: Was wünschen Sie sich von ihm?"; "Was ist bei aller Differenz Ihr gemeinsames Interesse, Ihr gemeinsames Ziel?" Hier müssen belastbare Kompromisse ausgehandelt werden. Aufgabe der Führungskraft ist es, beide Seiten anzuhören und die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interessen zu Wort kommen zu lassen. – Herausfordernder ist die Moderation von persönlichen Konflikten: Hier kann es notwendig sein, vor aller Lösungsorientierung Emotionen und Verletzungen in angemessener Weise Raum zu geben, damit spätere Lösungen nicht von tiefersitzenden Verletzungen torpediert werden (Thomann/Prior 2007: 22f.). Eine Methode in der Konfliktmoderation ist das "Aktive Zuhören": Das Gegenüber gibt vor der eigenen Antwort zunächst in eigenen Worten wieder, was er oder sie vom Anderen verstanden hat und sichert somit das Verständnis. Weiterhin kann die Führungskraft als Mediator*in versuchen, in eigenen Worten zu sagen, was sie jeweils von den Konfliktparteien gehört hat und so den Disput verlangsamen ("Doppeln"). Oft hilft hier eine Mediation durch externe Berater*innen. In der Verantwortung der Führungskraft liegt es in jedem Fall, Konflikte wahrzunehmen und frühzeitig anzusprechen: "Schmerz – ja, sofort!" Lieber jetzt den kleinen Schmerz in Kauf nehmen, als später eine Katastrophe (Corssen 2004: 132).


    c. Sich selbst führen

    Emotionsmanagement: Organisationen sind Gefühlswelten: Begeisterung und Leidenschaft für Ziele und Aufgaben, Verbundenheit und Loyalität zu Marke und Team, Ärger, Frust und Verzweiflung angesichts der tatsächlichen oder vermeintlichen Unfähigkeit des Managements, Zweifel und Verunsicherung bei eigenen Herausforderungen treffen aufeinander. Es gehört zur guten Führung, Gefühle zuzulassen und zu spüren, sie gleichzeitig nicht auszuagieren, sondern sich zu ihnen zu verhalten und sie zu moderieren. Dies gilt für die Mitarbeitendenführung (siehe Feedback und Konflikt) gleichermaßen wie für die Selbstführung. Selbstreflexion im Spiegel von Anderen ist hier eine wichtige Übung für Führungskräfte: Dabei helfen Spiegelungsübungen sowie das Feedback von Mitarbeitenden, Kolleg*innen und Externen. Hilfreich sind außerdem valide Persönlichkeitsmodelle, die eine Sprache und Grammatik für die Reflexion von Gefühlen zur Verfügung stellen. Ein gutes Beispiel für ein Persönlichkeitsmodell sind die Ich-Zustände der Transaktionsanalyse (Berne 1967): Wann fühlt sich jemand im rebellischen oder angepassten Kinder-Ich, wann im kritischen oder kurativen Eltern-Ich, wann gelingt es, eine erwachsene Haltung einzunehmen? Welche äußeren Impulse triggern die eigenen inneren Antreiber und entsprechende Gefühle? Nicht Gleichmut oder Gleichgültigkeit ist hier das Ziel guter Führung, sondern die Kompetenz, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen.

    Konstruktiv-kritische Loyalität: Führungskräfte bewohnen selbst unterschiedliche Welten: Sie spielen nicht nur eine Rolle in ihrer Organisation, sondern sind auch Mitglieder der Gesellschaft. Sie kommen notwendigerweise in Loyalitätskonflikte, kleinere, wenn sie Entscheidungen ihrer Vorgesetzten nicht sofort nachvollziehen können, größere, wenn sie sich mit ihrer Organisation nicht mehr identifizieren können. Was hilft dabei, eine eigene loyale Haltung zwischen den Polen von unbedingtem Gehorsam einerseits und innerer Emigration andererseits zu entwickeln? Zunächst ist es wichtig, eine gewisse innere Distanz zur eigenen Organisationswelt und -rolle zu bilden. Es ist gut, außerberufliche Felder bewusst zu pflegen, Freundschaften und Mitgliedschaften in anderen Organisationen, Frei- und Rückzugsräume zu gestalten, Coaching und Retreats in Anspruch zu nehmen ("Wer will ich in Bezug auf meine Organisationsrolle sein?"). Auch die Reflexion der eigenen Mitarbeitendenrolle gehört zu dieser Fragestellung: Als Mitarbeitende kann sich die Führungskraft in Strategie- und Entscheidungsprozesse einbringen, die eigene Führungskraft befragen und in Verantwortung nehmen ("Was ist der Sinn hinter dieser Entscheidung? Welche Alternativen gibt es?"). Die Distanz zur eigenen Rolle und das Hinterfragen der Managemententscheidungen führen zu einer konstruktiv-kritischen Loyalität zur Organisation, die Innovation und Veränderungsimpulse in der Organisation stärken kann, insofern die Führungskraft die Umwelt in die Organisation bringt. – In der Gegenrichtung stärken Führungskräfte diese konstruktiv-kritische Loyalität bei ihren eigenen Mitarbeitenden, wenn sie Distanz und Hinterfragen nicht nur ermöglichen, sondern auch gezielt fördern: "Wie sehen Sie das? Wie könnten Sie mir bei diesem Punkt widersprechen?" Die konstruktive Seite einer so gebildeten Loyalität ist, dass Führungskräfte sich zu Entscheidungen der Organisation stellen und sie umsetzen können, auch wenn sie nicht in jedem Detail einverstanden sind.

    Passung und Entwicklung: Auch die eigene Profession, die Weiterentwicklung von Führung, kann und muss gefördert werden. Führungsentwicklung hat nie nur den Aspekt, eine Führungskraft an die Organisation zu binden, sondern auch den Anspruch, die eigene professionelle und persönliche Entwicklung der Führungskraft zu ermöglichen – und sei es die Entwicklung von Mitarbeitenden über den ihr eigenen Zuständigkeitsbereich oder gar über die Organisation hinaus. Gute Führungskraft-Entwicklung und -reflexion hilft den Führungskräften auch dabei, die eigenen Gaben zu entdecken: "Welche Form von Führung liegt mir? Welche beruflichen Vor-Bilder leiten mich? Was fällt mir leicht?" Sie hilft dann, passende Aufgaben und Rollen zu finden: "Was passt zu mir? Welche nächsten Schritte kann ich mir vorstellen?" – Oft stellen sich die Fragen nach der Passung in der Lebensmitte, wenn erste Führungserfahrungen gemacht sind und Führung routinierter wird. Die Frage nach Passung verbindet sich mit einem tugendethischen Ansatz. Es zählt nicht nur (und nicht alleine) die Frage: "Was will ich noch erreichen?" – im Sinne einer Strebens- und Güterethik; sondern es stellt sich die Frage: "Was passt zu mir? Welche Aufgabe, welche Organisation, welcher Stil der Führung liegt mir?" Hier geht es um reflektierte Entwicklung und Kultivierung der eigenen Gaben und Kompetenzen als Aufgabe der Selbstführung.

    Für alle drei Dimensionen der Führung gilt, was Peter Glotz sagt: "Führungskräfte sind diejenigen, die darum wissen, dass von ihren Entscheidungen viel für andere Menschen abhängt, und sich dementsprechend verhalten" (zitiert nach Wegner 2019: 104). Führungsethik eröffnet den Raum, dieses Verhalten zu reflektieren, zu hinterfragen und bewusst auszurichten.

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    Veröffentlicht am 15.03.2021 (Version 1.0).

    Zitierweise:
    Grabenstein, A., Hoppe, S.: Art. "Führungsethik" (Version 1.0 vom 15.03.2021), in: Ethik-Lexikon, verfügbar unter: https://ethik-evangelisch.de/lexikon/fuehrungsethik.